Ein Eldorado für Nachtschwärmer, Lipsi und Schwarz-Taxen

Eine Stadt erschafft sich nach dem Zweiten Weltkrieg neu. Aus den Trümmern erwächst sozialistische Imponierarchitektur. Der Magdeburger Broadway ist heute Geschichte, oder doch nicht?

Die HO-Gaststätte Stadt Prag, mit ihrer dazugehörigen Tanzbar, unterhält die Amüsierfreudigen bis weit nach Mitternacht. Lipsi wird getanzt, Livemusik gespielt und Krankenschwestern vom gegenüberliegenden Wohnheim angeflirtet. Schwarz-Taxen bringen die Nachtschwärmer am frühen Morgen nach Hause. Mit dem politischen Wechsel 1989 wird aus der prächtigen sozialistischen Gaststätte ein McDonald’s.

Epochenpuzzle Magdeburg

Stadt Prag. © Fotograf unbekannt.
Stadt Prag © Fotograf_in unbekannt

Magdeburg hat stadthistorisch viele schwere Stunden erlebt. Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Stadt fast vollständig zerstört und niedergebrannt. Mit Kriegsende 1945 lag Magdeburg in Trümmern, da die Stadt bedeutender Rüstungsstandort der Nationalsozialisten war und die Alliierten dementsprechend Bombenangriffe flogen. Zentrale Aufgabe der neuen DDR-Regierung war daher der Neu- und Wohnungsaufbau der Innenstadt. Magdeburg wurde zum Lehrstück sozialistischer Städteplanung. Historisch bedeutende, teilzerstörte Sakralbauten, wie die Ulrichs- und Katharinenkirche, mussten nach dem Krieg – nicht selten unter massiven Bürgerprotesten – den sechs- bis achtgeschossigen Geschäftshäusern und Wohnblöcken weichen. Die Innenstadt wirkt für den/die Betrachter_in architektonisch zusammengewürfelt. Vergangenheit und Gegenwart stehen hier unvermittelt nebeneinander. Bis heute stehen sich Platten- und großräumige Prunkbauten gegenüber, Brachflächen und zerfallene Kirchen im engsten Radius zueinander.

“Wir gehen schwofen” – Tanzen im Café Stadt Prag

Alltag und Diktatur:

Handelsorganisation (HO)

Das Café Stadt Prag gehörte wie die meisten Gaststätten, Hotels und Kneipen zur Handelsorganisation der DDR (HO). Diese wurde 1948 von der Deutschen Wirtschaftskommission als staatliches Unternehmen des Einzelhandels gegründet. Die Gaststätte war ein sogenanntes Nationalitätenrestaurant. Es sollte Einblicke in die landestypische Küche der “sozialistischen Bruderländer” geben, in diesem Fall in die tschechoslowakische. Diese Restaurants erfreuten sich großer Beliebtheit, trotz der gehobenen Preise. Auf Grund ihres besonderen Speisenangebotes zählten sie zu den besten Adressen in der Gastronomie der DDR. Siehe dazu auch “Das Terrassenrestaurant Minsk in Potsdam”.

Die HO-Großgaststätte Stadt Prag befand sich am wichtigsten Knotenpunkt der Hauptgeschäftsstraßen in Magdeburg. An der Ecke Wilhelm-Pieck-Allee (heute Ernst-Reuter-Allee) und Breiter Weg. Auf dieser Ost-West-Achse spielt sich bis heute das städtische Leben ab. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der Breite Weg liebevoll auch der Magdeburger Broadway genannt, so viele und nah aneinander liegende Kaufhäuser, Tanzlokale und Kinos gab es. Die Gaststätte Stadt Prag befand sich in einem Gebäudekomplex, der heute noch existiert. Das beeindruckende Gebäude ist ein Stilmix aus sozialistischem Klassizismus und preußischer Schinkelschule. In den 1950er Jahren entstanden viele dieser Zuckerbäckerbauten in ostdeutschen Großstädten. Art deco und sozialistischer Realismus trafen hier aufeinander. Nichts wirkte in den ersten Jahren der DDR zu teuer für den neu entstandenen Arbeiter- und Bauernstaat. Marmorböden, ein verziertes Treppenhaus mit einer Freitreppe zum Obergeschoss und eine große geschwungene Theke faszinierten die Besucher_innen. Über zwei Stockwerke erstreckte sich das 1955 eröffnete Speise- und Tanzlokal. Die Gaststätte befand sich im Erdgeschoss. Eine Etage höher gab es ein Café und eine Bar mit ausladender Außenterrasse. Von Mittwoch bis Sonntag konnte hier zu Livemusik und Lipsi von 20 Uhr bis 3 Uhr geschwoft werden. Teilweise tanzte man schon im Restaurant und wechselte die Etage ab Mitternacht. Schautänzer, welche vor allem Lipsi, lateinamerikanische und Alt Berliner Tänze vortanzten, wurden oft begleitet von der beliebten Will-Swietek-Combo. Der Musiker Willi Swietek ist eine Magdeburger Tanzmusiklegende. Seine Bandmitglieder und er waren Berufsmusiker_innen und tourten durch die DDR. Sie waren nach eigener Angabe im Café daheim, und fühlten sich im Kristallpalast, im Stadt Prag, in der Eulenspiegelbar am Breiten Weg und in der Juanita-Bar des Hotels International wie zu Hause. Dank der Schwarz-Taxi-Haltestelle direkt an der Gaststätte war eine preiswerte Heimfahrt immer gesichert.

Die Führung der SED, allen voran der Sekretär für Erziehung und Kultur Wilhelmine Poenicke, konnte mit der Livemusik und den ungewöhnlichenTänzen mit ihren Verrenkungen und Ausschreitungen wenig anfangen. Sie verurteilte den Rock’n’Roll und das Jazzorchester als amerikanische “Unkultur”. Mit dem eigens für die DDR konzipierten Ersatztanz Lipsi, der für viele dennoch sehr steif daher kam, konnte sie sich arrangieren.

Big Mac statt Lipsi

Lipsi

Der Lipsi ist ein Modetanz, der 1959 in der DDR eingeführt wurde und in Leipzig entstand. Er sollte eine Alternative zum westlichen Rock’n’Roll sein. Die Grundschritte sind einfach. Dennoch konnte er sich nicht behaupten, da er als konservativer Paartanz kaum den Anforderungen des jugendlichen Tanzpublikums entsprach. Der Name ist vom lateinischen Namen für Leipzig abgeleitet.

Mit der Schließung der Gaststätte und Bar wurde die Immobilie frei und wartete auf einen neuen Käufer. Dieser ließ nicht lange auf sich warten, denn McDonald’s erkannte schon 1990 die 1A-Lage. Unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden Filialen der Fast-Food-Kette in den ehemaligen Ostblock-Staaten errichtet. So schnell konnte keine Regierung neue Richtlinien für die Demokratisierung der Wirtschaft erarbeiten, da hatte das Maskottchen Ronald McDonald schon seinen überdimensionierten Clownsschuh in der Tür. In Russland – noch während der Modernisierung und Umstrukturierung – wurde bereits im Januar 1990 die größte europäische Filiale mit 20 Kassen am Moskauer Puschkin-Platz im eröffnet. Es ist schon ein bemerkenswertes Beispiel für eine Geschichtsüberschreibung, wie an die Stelle der repräsentativen Kultgaststätte Stadt Prag das dominanteste Sinnbild des westlichen Lebensstils und Konsumverhaltens trat. Den erzürnten Leserbriefen nach zu urteilen, die im selben Jahr in der Magdeburger Volksstimme erschienen, hatten viele Magdeburger_innen sich nicht gerade nach Coca-Cola und Fast Food gesehnt.


Adresse: HO-Gaststätte Stadt Prag nun McDonald’s Ernst-Reuter-Allee 11, 39104 Magdeburg

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