In bester Lage in Magdeburg, direkt am Hasselbachplatz, existierte von 1960 bis 1990 eine verrauchte, rustikale Weinstube. Unter den Stammgästen waren Künstler_innen, Arbeiter_innen und Angestellte.
Ein buntes Gemisch aus allen sozialen Schichten saß an den Tischen und Weinfässern. Man trank und sang in ausgelassener Stimmung und war froh, wenn man noch hereinkam, in das immer bis auf den letzten Platz gefüllte Weinstudio Grün-Rot. Der Boden knarrzte, aber das hörte man eigentlich nie, weil alles immer viel lauter war, die Musik und die Gespräche.
Geschlossener Ort, vergessene Namen
Hasselbachplatz
Der Hasselbachplatz war und ist das heimliche Zentrum der Stadt. In dem, um die Jahrhundertwende entstandenen Viertel im Süden, hat das wilhelminische Magdeburg eine Flächensanierung in Großplattenbauweise überdauert. Nostalgische Stuck- und Schnörkelidylle an den Gründerzeitfassaden erzählen hier bilderreich von der einstigen Pracht und dem Reichtum der Handelsmetropole an der Elbe.
Kehrt man heute an den Ort zurück, ist vom damaligen Charme der Weinstube nicht mehr viel übrig geblieben. Die großen bunten Bleiglasfenster mit Wein- und Trinkmotiven, die umfunktionierten Fässer als Tische und Stühle und die massiven Deckenleuchten sind verschwunden. Seit 1990 gibt es das Weinlokal in der Otto-von-Guericke-Straße 56 nicht mehr. An seine Stelle ist ein offen strukturiertes Restaurant mit einer gut bestückten und beleuchteten Alkoholtheke getreten.
Es war nicht einfach herauszufinden, warum das Weinstudio Grün-Rot so hieß, wie es hieß. Einige Gäste führten den Namen zurück auf die Farben des Magdeburger Stadtwappens, andere schoben es auf die Ampel am belebten Verkehrsknotenpunkt des Hasselbachplatzes. “Alles Quatsch”, meint Gerhard Mette, einer der drei Geschäftsführer der Abtshof Magdeburg GmbH, “der Name kommt von der Etikettierung des Weines”. Wobei Grün für Weißwein und Rot für Rotwein steht.
Alltag und Diktatur:
Handelsorganisation (HO)
Das Weinstudio Grün-Rot gehörte nicht wie die meisten Gaststätten, Hotels und Kneipen zur Handelsorganisation (HO) der DDR. Diese wurde 1948 von der ostdeutschen Wirtschaftskommission als staatliches Unternehmen des Einzelhandels gegründet. Man kann sich die HO als staatliche Kette von Einzelhandelsgeschäften vorstellen. Sie sollte den Verkauf von Lebensmitteln und Mangelwaren zu überhöhten Preisen vermeiden. Nach der Gründung der DDR hatte die HO das Monopol für den freien Verkauf rationierter Waren, sodass der private Einzelhandel durch mangelhafte Zuteilung und überhöhten Steuern ausgetrocknet und oft zum Verkauf von Läden an die HO gezwungen wurde.
Das Weinstudio Grün-Rot hatte weder einen privaten Besitzer noch war es – wie zu vermuten wäre – der Handelsorganisation (HO) angeschlossen, sondern gehörte zum Kombinatsbetrieb der Magdeburger Lebensmittelindustrie, genauer zum Betriebsteil Abtshof. Das Unternehmen Abtshof vertrieb schon vor dem Zweiten Weltkrieg Weine und Spirituosen und ging 1951 in das Volkseigentum der DDR über. Das Weinlokal wurde von diesem Betrieb unterhalten und beliefert. Das Unternehmen hatte somit seine eigene betriebliche Weinstube. Den meisten Absatz fanden dort Weinbrände und Liköre, aber auch tiefdunkle Rotweine wie Rosenthaler Kadarka und Erlauer Stierblut.
Das Lokal war fast immer voll. Je später der Abend, desto öfter die Gesichtskontrolle. Ein elitäres Auswahlverfahren, das wir eher heutigen Großstadtclubs zuschreiben würden. Wenn der Platz begrenzt ist, behält man ihn eben lieber den Stammgästen vor. Die Eingangstür wurde abgeschlossen und nur wer an dem Kellner vorbeikam, konnte Käsegitter und Wein aus den östlichen Volksrepubliken bestellen. Zum Publikum zählten aber nicht nur “Erlauer Stierblut” trinkende Intellektuelle, sondern auch Arbeiter_innen, Angestellte und Gemeindemitglieder der Kirche. Die Kneipe fasste Platz für ungefähr 50 Menschen. Glücklich, wer einen der heißbegehrten Plätze am Eingang, also beim großen Weinfass, ergatterte. Von diesem Platz aus sah man am besten. Die schlichte Einrichtung wurde ergänzt durch ein musizierendes Duo zweier alter Männer, Hans und Rudi. Einer spielte die Gitarre und der andere begleitete ihn auf der Teufelsgeige. Sie waren fest angestellt und spielten sieben Tage die Woche abends Schrammelmusik. Diese aus Österreich stammende Volksmusik, entstanden im 19. Jahrhundert, sollte die Gäste in die richtige Trinkstimmung versetzen. Schon Johann Strauss, Johannes Brahms und später auch Arnold Schönberg waren große Verehrer dieser meist melancholisch und weinerlich anmutenden Musik. Gerhard Mette, der schon zu DDR-Zeiten Mitarbeiter bei der Abteilung Wein und Spirituosen Abtshof war, erinnert sich an die Ausflüge zum Broilerstand vor der Arbeit, um eine Grundlage für die langen Abende hinter der Theke zu schaffen. Unter der Woche konnte man bis Mitternacht beieinander sitzen, danach begann die in der DDR übliche Sperrstunde. Am Wochenende schloss die Kneipe gegen 1 Uhr, die bis dahin gebliebenen Gäste rannten nun zur letzten Tram. Begünstigt durch den Außerhausverkauf konnte man Flaschen nach Ladenschluss mitnehmen und zu Hause oder an der Elbe weitertrinken.
Erlauer Stierblut
Erlauer Stierblut ist ein ungarischer Rotwein, der oft von Intellektuellen und Künstler_innen in der DDR getrunken wurde. Diese Szene wird im Nachhinein mit ihm assoziiert. Er galt als trinkbar, weil er im Gegensatz zu den sonstigen erhältlichen zuckersüßen Rotweinen recht trocken war.
Die Galeristin Ingrid Bahß wurde von ihrem Mann – dem Fotografen Dietrich Bahß – in die Kreise des Weinstudios eingeführt. Man brauchte keine explizite Einladung oder einen Bürgen, sondern musste einfach auf der gleichen Wellenlänge sein, was hier das Interesse am Diskutieren, Trinken, Rauchen und an alternativen Lebensvorstellungen meint. Zu den Spezialitäten zählten die schon oben erwähnten Käsegitter und Weine aus Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Ein Käsegitter ist so simpel wie es klingt, man schneidet Käse in Streifen und legt ihn gitterartig aufeinander. Fertig war der Snack zum Wein. Eine andere sehr beliebte und unglaublich preiswerte Spezialität war das Ragout fin des Hauses. Für 1,50 Mark erhielt man das mit Käse überbackene, in einer kleinen Auflaufform servierte Kalbsragout.
Bespitzelung als Running Gag
Alltag und Diktatur:
Witze in der DDR
“In einer Diktatur ist der Witz das Entlastungsventil des kleinen Mannes”, erläutert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Wer zu DDR-Zeiten etwas über die Sorgen und Nöte der DDR-Bürger_innen erfahren wollte, konnte die Witze studieren, die man sich in dem Land über Ulbricht und Honecker, Bückware, Völkerfreundschaft und andere sozialistische Errungenschaften erzählte. Missstände, die nicht offen bekundet werden durften, verpackte man in Wortschöpfungen wie “Bückware” für knappe Ware, die nur besondere Kunden unter dem Ladentisch erhielten, oder Witze: “Kannten Sie Herrn Kieling?” – “Ja, flüchtig”. Manche Witze thematisierten die Gefährlichkeit, Witze zu erzählen: Unterhalten sich Honecker und Mielke. Honecker: “Ich sammle alle Witze, die über mich im Umlauf sind.” Darauf Mielke: “Ich sammle alle, die sie in Umlauf bringen.”
Natürlich war auch dieser Ort nicht frei von Bespitzelung, Unterstellungen und Misstrauen. Verdächtigungen als Spitzel waren in der Szene gang und gäbe. Gerüchte kamen und gingen, man schenkte ihnen am Ende des Abends weniger Bedeutung als zu seinem Anfang. So wurde aus der Not ein Running Gag. Man provozierte und beschuldigte sich spaßhaft und nahm die darauf folgende Antwort nicht ernst. Einer der Kellner sprach jeden Gast mit dem Gruß an: “Du bist wohl Spitzel”, woraufhin der Gast ihm mit den Worten eine Abfuhr erteilte: “Du hast recht“ oder “Spinner”. Welche Auswirkungen die Stasi auf DDR-Bürger_innen hatte, lässt sich anhand des Beispiels der Eheleute Bahß gut darlegen. Siehe dazu den Beitrag zur Wohnungsgalerie Bahßs hier.
“Trink nicht wahllos – greife zum Wein”
An Alkohol mangelte es in der Mangelgesellschaft nie. In der DDR trank man viel und gerne. Der im Vergleich zu den westlich geprägten Nachbarländern hohe Alkoholkonsum wird oft zurückgeführt auf die graue Realität der eingesperrten DDR-Bürger_innen. Ganz so einfach und verkürzt darf man diese Behauptung wohl nicht stehen lassen. Natürlich gab es Leute, die aufgrund ihrer individuellen Einschränkung ihre Sorgen im Alkohol ertränkten, aber vor allem, meint der Berliner Ethnologe Thomas Kochan, lag es an der Erfahrung einer konkurrenzarmen Kollektivgesellschaft, das man mehr trank. Existenzielle Sorglosigkeit, fehlendes Leistungsdenken und sehr viel Zeit führten zu längeren Abenden in Bars und zu weniger selbstoptimierender Abstinenz. Man ging eben auch verkatert zur Arbeit. Die DDR-Führung erkannte das Problem, dass Leute, die trinken, weniger leisten, als die Leute, die verzichten. Aber das Idealbild eines vernünftigen, nüchternen und sozialistischen Menschen konnte nicht nachhaltig geprägt werden. Mit Kampagnen wie “Trink nicht wahllos – greif zum Wein” versuchte man den Alkoholkonsum zwar zu regulieren, aber so richtig erfolgsversprechend war das nicht.
“Ursächlich waren die Erfahrung einer konkurrenzarmen Kollektivgesellschaft, ein wenig gefördertes Leistungsdenken, gemeinschaftliche Verantwortungsfreiheit, existentielle Sorglosigkeit und das Leben in einer räumlich begrenzten, dafür an Zeit umso reicheren Welt.”
Wein blieb aufgrund der geringen Vielfalt und Qualität in DDR eher unbeliebt. Nicht so im Weinstudio Grün-Rot. Hier fand man sich in erster Linie wegen des Weintrinkens ein. Auf der Karte standen ungarische, bulgarische und rumänische Weine, aber auch der beliebte weiße oder rote Krimsekt – Krimskoye. Wenn man nicht trockenen Rotwein trank, was vor allem der Ostavantgarde zu eigen war, trank man süße Likörweine, die man umgangssprachlich Schlüpferstürmer nannte. Namen wie Catnari, Muskat Otonel und Murfatlar schwirren da in den Köpfen der ehemaligen Gäste umher. Die Weine aus der direkten Umgebung, also von Saale, Elbe und Unstrut, waren den DDR-Bürger_innen jedoch nicht zugänglich, diese wurden exportiert oder in den Interhotels an hochrangige Gäste ausgeschenkt.
Adresse: Weinstudio Grün-Rot Otto-von-Guericke-Straße 56, 39104 Magdeburg