Zelten am Grenzstreifen – Der Campingplatz Alt-Reddevitz

Rügen ist bei Urlauber_innen seit jeher ein beliebtes Reiseziel. Zu DDR-Zeiten war die Insel aber vor allem eins: Grenzgebiet. Über 5.000 Personen versuchten über das Meer zu flüchten.

Wir befinden uns in der DDR der 1970er Jahre. Campen auf Rügen ist normalerweise nur mit Zeltschein und zugewiesenem Zeltplatz möglich. Wer sich nicht daran hält, riskiert ohne Schlafplatz zu bleiben. Trotzdem ist Rügen auch für Spontanurlauber_innen ein begehrtes Reiseziel. Immer wieder schnappen sich Leute auch ohne Anmeldung ihre Rucksäcke und brechen auf gut Glück in Richtung Küste auf.

Zelten ohne Schein

Alltag und Diktatur:
Enteignung

Mit der so genannten Aktion Rose kam es im Februar 1953 zur Verstaatlichung – sprich Enteignung – von Hotels, Erholungsheimen, Taxi- und Dienstleistungsunternehmen durch das SED-Regime. Betroffen waren vor allem Badeorte an der Ostseeküste. Unbebaute Grundstücke sowie Feriendomizile wurden in Volkseigentum überführt.

So lässt sich auch die Entstehung des Campingplatzes von Alt-Reddevitz auf der Halbinsel Mönchgut erklären. Auf einem Acker – durch die Enteignung unbewirtschaftet – wuchs nach und nach eine Wiese mit kniehohem Gras. Schnell wurde der Ort zum Sammelbecken für unangemeldete Urlauber_innen auf der Suche nach einem Schlafplatz, erinnert sich Olaf Jendykiewicz. Der Camper aus Brandenburg an der Havel war einer der ersten, die auf der Wiese ihr Zelt aufschlugen. Damals gab es noch keine Sanitäranlagen. Erste kleine Waschbecken, gespeist durch Brunnen, entstanden. Essen kaufte man im Nachbarort. Man zeltete ohne Luxus.

Die Anfänge des Zeltens in Alt-Reddevitz (c) Kai-Timo Bitzer

Heute liegt der Naturcampingplatz Alt-Reddevitz im Südosten der Insel Rügen in einer von Wind und Wetter geprägten Landschaft: Sanfte Hügel, die sich als Landzungen bis weit in den Bodden und die Ostsee erstrecken, kilometerweite Strände und Steilküsten. Der Campingplatz ist groß, aber nicht vergleichbar mit den Campingresorts in Baabe, wie Besitzer Kai-Timo Bitzer erklärt. Seiner Familie gehört der Campingplatz seit 1991. Übernachten kann man hier im Zelt, im Bungalow, im umgebauten Zirkuswagen oder im Haus mit Reetdach.

Aufstand der Nudisten

Alltag und Diktatur:
Staatsmacht und Freikörperkultur (FKK)

Die Idee der “Freikörperkultur” (FKK) entstand im 19. Jahrhundert im Einklang mit der Lebensreformbewegung. Die Nationalsozialisten haben die Freikörperkultur zunächst verboten. 1942 wurde das Nacktbadeverbot wieder aufgehoben und auch FKK-Strände wurden wieder legalisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbot die Sowjetische Militäradministration neben den NS-Organisationen ausdrücklich auch alle FKK-Vereine. Dieses Verbot galt noch in den Anfängen der DDR.

Ein paar Kilometer vom Campingplatz entfernt stellten ein paar Nackte die Toleranz der Staatsmacht auf die Probe.
Denn die Freikörperkultur war auch in der DDR zunächst verboten. Nicht jeder hielt sich daran: An den Stränden der Ostsee und den Binnengewässern wurde immer wieder ziviler Ungehorsam geprobt. Zwar gab es regelmäßige Verhaftungen, aber der Masse an nackten Menschen konnte die Volkspolizei nicht Herr werden.

Immer wieder schrieben Bürger_innen sogenannte Eingaben – Beschwerdebriefe an die Staatsführung – um das Nacktbaden zu legalisieren. Argumentiert wurde, dass praktizierte Nacktheit nichts mit Sexualität zu tun habe, sondern der Gesundheit dienlich sei und somit der Erhaltung der Arbeitskraft.

Nach langem Drängen wurde 1956 schließlich die “Anordnung zur Regelung des Freibadewesens” verkündet. Darin wurde das Nacktbaden an ausgeschilderten Orten erlaubt. Mit der Zeit eroberten die Nacktbadenden zahlreiche weitere Strände. Zum Ende der DDR war die Freikörperkultur nicht mehr wegzudenken.

Urlaubsmanagement am Limit

Besonders in den Sommermonaten Juli bis August wurde die Insel Rügen geradezu von Urlauber_innen überlaufen. Die Regierung versuchte dem Missverhältnis von Angebot und Nachfrage zu begegnen. Planwirtschaftlich versuchte die Verwaltung, die Urlauber_innen durch Prognosen und Verteilungen der angemeldeten Reisenden zu managen. Engpässe – besonders in der Lebensmittelauslieferung – sollten so verhindert werden. Jedoch ohne Erfolg.

Postkarte Alt-Reddevitz

Camping auf Rügen war damals schlicht die populärste und preiswerteste Ferienreise für DDR-Bürger_innen. Was provisorisch begann, wurde in den nachfolgenden Jahren vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) professionalisiert. Aus Zeltlagern wurden größere betriebliche Erholungseinrichtungen, die besser ausgestattet waren und zumeist eingeschossige Sommerhäuser umfassten. Familien dominierten jetzt das Bild der Ostseeregion.

Die Grenze am Horizont

Alltag und Diktatur:
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund

Neben der ideologischen Tätigkeit in den Betrieben war der FDGB auch für den Tourismus in der DDR zuständig und organisierte viele Unterkünfte, Kinderferienlager und Campingplätze für seine Mitglieder_innen. Diese Mitgliedschaft war zwar freiwillig, eine Nicht-Mitgliedschaft konnte aber negative Folgen für die berufliche Laufbahn haben.

Der Campingplatz Alt-Reddevitz wurde zum beliebten Standort für FDGB-Ferienheime. Ganz frei waren die Urlauber_innen allerdings nicht: Das nächtliche Spazieren am Strand oder das Übernachten in Strandkörben war streng verboten! Denn auch wenn man keine Grenze sah: Rügen war Grenzgebiet. Nachts wurde patrouilliert und kontrolliert, erinnert sich Olaf Jendykiewicz.
Heute können die ehemaligen FDGB-Bungalows von Besucher_innen gemietet werden, DDR-Interieur inklusive. Wer will kann heute mit seiner Flasche Wein, Kerzen und seinem Schlafsack zum Strand ziehen, ohne kontrolliert, ausgefragt oder angeleuchtet zu werden.


Adresse: Naturcampingplatz Alt-Reddevitz Alt Reddevitz 2, 18586 Middelhagen

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