Von der DDR Nudelfabrik zum Graffiti-Areal

Wohin mit den in die Jahre gekommenen und längst überflüssigen DDR-Industriestätten, die um und in unseren Städten verfallen? Man macht sie zu legalen Orten einer kreativen Subkultur.

Diese Kathedralen der Arbeit, diese Überbleibsel einer vergangenen Produktionsweise, Bauwerke, welche im Verfall inbegriffen sind und uns dennoch immer noch einschüchtern: durch ihre Größe, ihre Funktionalität und die Masse an Menschen, die sie einst fassten – täglich und über Jahrzehnte übergibt man in Magdeburg an die Subkultur. Das Gelände der ehemaligen “VEB Konsummühle” ist jetzt die größte Graffiti Hall of Fame Europas. Junge Kreative dürfen hier legal, rund um die Uhr das ganze Jahr sprayen und feiern.

Der ganze Stolz der DDR-Produktion

Alltag und Diktatur:

Volkseigene Betriebe (VEB)

In den 1950er Jahren wurden private Unternehmen enteignet und verstaatlicht. Die sogenannten Volkseigenen Betriebe (VEB) waren staatliche Unternehmen. Ein Kombinat setzte sich aus mehreren VEB zusammen. Hier wurden Produktionszweige zusammengefasst und zentral geleitet. Das Ziel der Produktionsorganisation bestand darin, alle Abläufe möglichst zentral zu planen.

Die Magdeburger Konsummühle war für damalige Verhältnisse ein Koloss an Produktionsstätte. Was als Mühle in den 1920er Jahren begann, einschließlich Mehlspeicher und Mehlmischanlage, wurde in den ersten Jahrzehnten der DDR zur modernen und produktiven Teigwarenfabrik ausgebaut. Hier wurde von Graupen und Grieß über Grütze und Haferflocken bis hin zu Brot und Nudeln alles produziert.
Die DDR-Führung erkannte schnell, wie wichtig ein voller Magen zur Befriedung der eigenen Bevölkerung und zur Stabilisierung des eigenen Systems ist. Aus diesem Grund wurde eine aus unserer heutigen Sicht undenkbare Preispolitik der Lebensmittelsubventionierung eingeführt. Das Motto des Arbeiter- und Bauernstaates lautete: “Das Brot wird heute das Gleiche kosten wie gestern und morgen das Gleiche wie heute.” Diese kommunizierte Stabilität der Grundsicherung, diese gewollt geschaffene Stimmung fernab von Existenzangst, kostete den Staat Unsummen.
Der unerwünschte Nebeneffekt der niedrigen Lebensmittelpreise für Brot und Brötchen war außerdem, dass sie zwar billig waren, aber oft nicht schmeckten. Backwaren wurden wenig geschätzt, und nicht selten schnell weggeworfen oder an Tiere weiter verfüttert wurden.

Eine schlechte Kartoffelernte soll Ende der 1970er Jahre ausschlaggebend für die Gründung der Nudelbude in Magdeburg gewesen sein. Ab diesem Zeitpunkt gab es Makkaroni, Spaghetti und sogar Sonderproduktionen, die in Länge und Breite variierten, die von der firmeneigenen Bootsanlegestelle verschifft wurden.

Der Magdeburg-Industriehafen hält sich über Wasser

Graffiti Areal. © Annika Schmermbeck.
Graffiti Areal © Annika Schmermbeck

Magdeburg besaß während seiner ganzen Stadtgeschichte immer schon einen bedeutenden Binnenhafen. Ende des 19. Jahrhunderts hatte er einen hohen Stellenwert, da er der größte Umschlagplatz für Zucker und Salz im Deutschen Kaiserreich war. Der Standort Magdeburg liegt gut: Hier kommen alle Verkehrsknotenpunkte zusammen – Bahn, Straße, Fluss. Zu DDR-Zeiten setzte sich die Stadt so an die Spitze der ostdeutschen Binnenhäfen und wurde zum wichtigsten Umschlagplatz für Massengüter. 6.000 Schiffe wurden im Jahr be- und entladen. Allen voran die Schwermaschinenindustrie, aber auch Kali, Baustoffe und Lebensmittel wurden von Land auf Wasser und von Wasser auf Land transportiert und zur Weiterverarbeitung über das ganze Land verteilt. Auch die Konsummühle verfügt, damals wie heute, über einen eigenen Bootsanlegeplatz, wo das Korn der umliegenden Regionen abgeladen und in das Getreidesilo gefüllt wurde. Nach Verarbeitung des Getreides zu einem fertigen Produkt wurden diese mithilfe der hafeneigenen Eisenbahn an das öffentliche Verkehrsnetz übergeben und fanden von dort ihren Weg in die Läden der Republik.

Nach 1989/1990 wurde der Hafen unrentabel und verlor an zu verschiffenden Gütern, da die nun nicht mehr modernen Industriezweige an der Elbe wegbrachen und schließen mussten. Die heutige noch bestehende Mühle bekommt ihr Korn ausschließlich mit dem Lkw angeliefert, zu gering ist die zu verarbeitende Menge an Getreide.

Graffiti Areal. © Annika Schmermbeck.
Graffiti Areal © Annika Schmermbeck

Nudeln, Brot und jetzt Graffiti

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und der Umstrukturierung der Betriebe wurde die ehemalige Kombinatsmühle für Brot und Nudeln in Magdeburg stillgelegt. Hunderte Arbeiter_innen gingen jetzt nicht mehr tagtäglich im drei-Schicht-System in die Fabrik am Industriehafen, sie wurden arbeitslos und das riesige Gelände von einer Grundstücksgröße von 3 Hektar wurde dem Verfall überlassen. Die Natur eroberte es sich Stück für Stück zurück. Das Grundstück sieht aus wie viele Industriebrachen: Gleise, Beladeflächen, Verwaltungsgebäude und ebenerdige Produktionshallen. Eine brachial anmutende, aus braunen Ziegeln geklinkerte Mühle, einschließlich Speicherhaus und Getreidesilo. Ein Lost Place, wie er überall in Ostdeutschland sein könnte.

Links

info@aerosol-arena.de

www.aerosol-arena.de

Filmbeitrag über die Aerosol-Arena in der ARD Mediathek

Seit 2011 ist Schluss mit der Nichtnutzung. In die Fabrik ist Farbe und Leben gekommen. Das Gelände der Teigwarenfabrik wurde zur Aerosol-Arena, ein Magnet für Sprayer aus Deutschland und der ganzen Welt. Das Areal fiel ihm eben so zu, ein Freund bot es ihm an, so berichtet Jens Märker, Dortmunder Old School-Writer der ersten westdeutschen Graffiti-Szene und Gründer der Aerosol-Arena. Alles darf und soll bemalt werden, egal zu welcher Uhrzeit, 365 Tage im Jahr. Das Gelände ist immer offen, für Künstler_innen und Besucher_innen, man kann einfach vorbeigehen und sich die großflächigen Bilder anschauen.

Die Idee dahinter ist einfach: Man möchte der Szene einen eigenen Raum geben, einen wirklichen Raum, nicht nur die paar Wände an städtischen Verteilerkästen oder U-Bahn Brücken. Covern ist kostenlos, Cans, also Sprühdosen, bringt man mit. Baustrahler, Hebebühnen und Leitern können für wenig Geld vor Ort gemietet werden. Wer die ultimative Fläche sucht und keine hohe Geld- oder Freiheitsstrafe riskieren will, kann auch Waggons besprühen. Wegen der noch intakten Gleisstränge können die Zugabteile bewegt werden, auch Filmcrews drehen hier. Der Kreativität ist kein Ende gesetzt, da Raum für alles da ist. Auch Hallen für Parties, Konzerte oder Filmvorführungen können gemietet werden. Das Projekt ist privat finanziert. Die Stadt toleriert zwar die urbane Gegenkultur, fördert sie aber nicht.

Heute ist nur noch ein Bruchteil der Anlage als eigentliche Mühle in Betrieb. Genauer genommen nur noch der Hauptteil des braunen, kubischen Gebäudeblocks mit seinen 40 Meter hohen Silos. Hier testet die Erzeugergemeinschaft Öko-Korn-Nord die Qualität ihres bio-zertifizierten Getreides und Saatgutes. Gemahlen und gebacken wird hier nicht mehr. Dieser Bereich der Mühle, welcher der Architektur der klassischen Moderne der Weimarer Republik zugeordnet werden kann, steht jetzt unter Denkmalschutz. Umgeben und ummalt von den außergewöhnlichen Graffiti-Werken, erlebt diese Industriestätte eine Metamorphose, eine neue Nutzung, durch eine neue Generation.


Adresse: Nudelfabrik nun Aerosol Arena Klosterkamp 4, 39126 Magdeburg

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