Mein Ort*: Breakdance in der DDR

Wer als Jugendlicher in der DDR seine Freizeit gestalten wollte, hatte einige Möglichkeiten: man konnte Arbeitsgemeinschaften in der Schule besuchen, traf sich nachmittags auf dem Bolzplatz, oder war mehrmals in der Woche bei einen der ortansässigen Sportvereine registriert.

Von Frank Salewski

Alles mehr oder weniger organisiert durch den FDJ, die Lehrer_innen oder die Vereinstrainer, die ihre Vorgaben abarbeiten mussten. Individualität gab es, nur war sie überlagert von diesen Personen und Institutionen und sie fand kaum öffentlich statt. Bis ich 1984 meinen 16-jährigen Geburtstag feierte, verlief mein jugendliches Leben so ähnlich. Ich war einer von den Jungs auf dem Bolzplatz, war aktiver Handballer im Trainingszentrum und kannte jeden Winkel der Sporthalle. Nur mit den Arbeitsgemeinschaften stand ich auf Kriegsfuß! Ich fand damals keine AG, die mich dermaßen interessierte, dass ich nachmittags nochmals in die Schule laufen wollte, um dort meine Freizeit abzusitzen!

Meine Breakdancegruppe “The Melodics”

Die Melodic Dancers im offenes Breakdance-Turnier im JCH Hoyerswerda (c) Frank Salewski
Die Melodic Dancers im offenen Breakdance-Turnier im JCH Hoyerswerda (c) Frank Salewski

Ich fand ein anderes Hobby und jetzt, viele Jahre später, ist für mich daraus eine kleine Lebensphilosophie geworden. Es war ein Abend in der Sporthalle, wir Schüler der 10. Klasse der Polytechnischen Oberschule „Juri Gagarin“ in Stralsund organisierten eine Klassendisco und während dieser sah ich zwei Jungs, die versuchten zu breaken! Etwas, was ich damals noch gar nicht kannte! Diesen Begriff und diesen Tanz. Es vergingen keine zwei Monate und ich gründete meine eigene Breakdancegruppe: „The Melodics“! Und war auf einmal selbst einer von diesen Breakdancern. Wir trafen uns auf dem Schulhof, auf dem Rasen hinter dem Elternhaus oder an Unterführungen. Wir wollten so tanzen, wie die Jungs in der Bronx! Denn davon hatten wir erfahren, durch das Westradio. Wir nähten uns eigene Klamotten, Sachen mit „Style“! Wir wurden zu „Paradiesvögel“ in der grauen, tristen Realität der DDR. Der erste, öffentliche Auftritt war ausgerechnet für unsere Schule. Zur Abschlussfeier der 10. Klasse und in Vorbereitung auf unsere Lehre, tanzten wir vor unseren Klassenkameraden. Es war sehr aufregend für uns als Aktive aber auch für unsere Freunde. Denn was wir in kurzer Zeit erlernt hatten, war ja noch nicht allzu viel tänzerisches Können, aber wir waren mit großem Enthusiasmus dabei. Und das wurde honoriert. Wir wollten mehr. Und wir setzten unser Vorhaben in die Tat um. Unsere Gruppe wuchs beständig, unser Können auch.

Zugriff!

Doch unser Tun wurde nach einer gewissen Zeit auch beobachtet und stellenweise auch jäh unterbrochen. Waren wir selbst daran Schuld, als wir uns an einem kalten Februartag ausgerechnet ein sowjetisches Ehrendenkmal aussuchten, um davor zu tanzen? Nein! Nur der glatte Fußboden davor war zu verlockend zum Zeigen unserer Moves.

Zugriff! Für einen unserer Tänzer endete dieser Ausflug in der Arrestzelle der Polizei: Verhör und Belehrungen, diese Orte nachfolgend zu meiden. Wir hielten uns daran, Ärger mit der Polizei wollten wir nicht heraufbeschwören. Doch das Tanzen ging weiter, mittlerweile als „staatlich anerkanntes Volkskunstkollektiv“. Das war die Bezeichnung auf den Einstufungspapieren des Kulturbundes. Wir waren einfach nur die Breakdancer aus Stralsund, doch die große weite Welt außerhalb unserer Heimatstadt wurde auf uns aufmerksam. 1987, erste Meisterschaften in Hoyerswerda, organisiert durch eine stetig anwachsende Community der Breakdancer innerhalb der DDR. Kommunikation per Brief, reisen mit dem Zug, schlafen dort, wo die Musik aus dem Recorder drang. So sah unsere Freizeit nun aus. Die Wochenenden waren unser Ziel. Das Schöne an dieser Zeit war, dass wir Freunde fanden, in Rostock, Berlin, Dresden. Menschen, mit denen ich heute noch gerne so manche Stunde verbringe.

Staatlicher Kulturbund adé

1988 war für uns ein Jahr, in dem wir einen Scheideweg gingen. Wir lösten uns von der verordneten Vereinnahmung durch den staatlichen Kulturbund, dem wir als „Volkskunstkollektiv“ verschrieben waren und fanden eine private Künstlervermittlung. So ganz gelöst von staatlicher Kontrolle war diese zwar auch nicht. Aber wir als Tanzgruppe hatten hier keine Einschränkungen zu befürchten, künstlerisch und personell. Unser Schaffen wurde anerkannt als Kunst und nicht als kleiner Programmteil zum 1. Mai oder 7. Oktober. Wir standen nun ganz plötzlich auf den ganz großen Bühnen, vor tausenden Zuschauern, bei Veranstaltungen, die bis dahin für uns unerreichbar geblieben wären. Und Gagen im vierstelligem Bereich für ein Wochenende mit sechs Auftritten.

Beispiel Juni 1988, Neubrandenburg: Pressefest der „Freien Erde“. Zugegebenermaßen ein Zeitungsorgan der SED, aber das waren sie ja irgendwie alle. Doch Professionalität und Programmgestaltung oblag einer Künstleragentur und keiner staatlichen Organisation. Und das war zu merken. Hier kümmerte man sich um jeden einzelnen Künstler. Und das waren nicht Wenige. Unser Auftritt wurde gefilmt, auf einer Videokamera aus dem Westen. Da wir uns vorher noch nie selbst in bewegten Bildern gesehen hatten, erstand ich schließlich, für 250 Ostmark und einer Flasche Rotkäppchen-Sekt eine VHS-Kassette unserer Vorführung.

Einen Recorder dafür besaß keiner von uns, aber jeder hoffte inständig, dass die Oma vom nächsten Westbesuch genug „harte Währung“ mitbringt, damit wir auf dem „Schwarzmarkt“ einen Recorder erstehen können. Ich habe leider erst nach der historischen Wende einen Blick in diese Kassette werfen können. Meine Oma war selten auf der „anderen Seite“.

1989, Frühsommer

Einladung für einen der besten Tänzer der Republik nach Ungarn. Und der kam aus Stralsund. Der „Europa-Cup“ in Szolnok wurde organisiert von Attila Laszló von der „International Dance Organisation“ mit Sitz in Italien. Wir wurden international, zumindest einer von uns. Das Abschneiden vor Ort war nicht so wichtig, alleine die Teilnahme zählte schon. Es waren Tänzer aus ganz Europa am Start, auch aus dem Westen. Vielleicht gerade deshalb grenzt es an einem Wunder, das unser bester Stralsunder Tänzer dorthin reisen durfte, obwohl die gesamte Familie schon Jahre vorher einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Im Nachhinein betrachtet drängt sich der Gedanke auf, das er nur fahren durfte, um seine Reifeprüfung abzulegen. Er blieb aber nicht dort, um dann in den Westen zu flüchten. Diese Chance wäre dagewesen, im Frühsommer 1989. Aber dann hätte der Rest seiner Familie nie die Ausreise gewilligt bekommen, um ebenfalls in den Westen zu gehen.

Der Rap hielt Einzug

Der Familienbann hielt, seine Teilnahme am „Europa-Cup“ legt Zeugnis darüber ab, dass wir als Gruppe tänzerisch alles richtig gemacht haben und eine Anekdote kam dazu: in unser Leben als Tänzer in einer Zeit und in einem Land, in dem es schwer war, individuell zu sein! Und auch zu dieser, politisch und menschlich, sehr entscheidenden Zeit, waren wir ein gutes Gefüge und der Hip Hop, der in uns allen steckte, entwickelte sich weiter. Mittlerweile tanzten wir nicht nur, es wurde auch gesungen, oder vielmehr musikalisch gesprochen. Denn der Rap hielt Einzug. Anfangs schwierig zu verstehen, denn das Schulenglisch hielt nicht das, was es hätte versprechen sollen. Doch von Auftritt zu Auftritt klappe diese Synergie aus Tanz und Gesang immer besser. Unsere Programme wurden umfangreicher, nicht zuletzt auch durch eine Mädchentanzgruppe, die sich zwischenzeitlich in unserer Heimatstadt zusammengefunden hatte. Wir waren kaum noch zu Hause. 200 Auftritte in einem Jahr waren kein Pappenstiel.

Aber Stralsund blieb unser Bezugspunkt. In der Discothek, ja sogar auf der Straße kannte man uns. Es gab andere Tänzer, die uns nacheiferten! So verwundert es auch nicht, dass der Generationswechsel innerhalb der Tanzgruppe reibungslos vollzogen wurde. Die historische Wende kam, die Kultur im Osten brach einfach weg. Doch die „Melodics“ gab es noch bis 1995. Wir reisten in neuer Formation, lernten neue Freunde kennen, tanzten national und international. Wir lebten den Hip Hop in vollen Zügen und ich kann, stellvertretend für jeden einzelnen Tänzer unserer Gruppe behaupten, wir hätten es nie anders machen wollen.

Und meine Heimatstadt?

Sie würdigte selbst noch im Jahre 2014 unser künstlerisches Schaffen. Unser Oberbürgermeister hielt während unseres 30-jährigen Bestehens eine kleine Rede. Nichts Großes, aber irgendwie machte uns es trotzdem stolz, denn wir tanzten gerne in Stralsund, vor unserem Publikum. Ich schrieb eingangs von einer Lebensphilosophie, die bis heute anhält. Es ist für mich zur Selbstverständlichkeit geworden, meine Freunde alle fünf Jahre nach Stralsund einzuladen, um unser Bestehen zu feiern. Mittlerweile etwas ergraut, aber immer noch mit viel Feuer der Sache wegen. Und wir sind noch nicht fertig. Zur Zeit ist ein Buch in Arbeit, über genau diese Zeit wird darin berichtet, natürlich von einem echten „Melodics“!

 

Frank Salewski berichtete von seinem Alltagsort in der DDR.

*Alltag Ost ist ein Projekt der KOOPERATIVE BERLIN. Beiträge von externen Leser_innen und Nutzer_innen der Webseite sind gekennzeichnet als “Mein Ort”. Für die Inhalte sind die Autor_innen zuständig. Die KOOPERATIVE BERLIN nimmt nur formale Anpassungen vor.

 

Adresse: Juri Gagarin Schule, Wallensteinstraße 8, 18435 Stralsund

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