Bleiben oder Gehen? Der Weiße Kreis in Jena

Reisefreiheit gehörte nicht zum Alltag in der DDR-Diktatur. Deshalb schloss sich eine Protestgruppe zusammen, um öffentlich Anträge auf Ausreise aus der DDR zu stellen. Am Ort der Proteste, dem Platz der Kosmonauten in der Jenaer Innenstadt, befindet sich heute ein Parkplatz.

Flucht oder Ausreiseantrag

Link:

Die Website: Chronik der Mauer

Literaturhinweis:

Heidelore Rutz: Klopfzeichen. Mein Weg in die Freiheit: Vom DDR-Ausreiseantrag zum Häftlingsfreikauf. München 2015.

Nachdem fast drei Millionen DDR-Bürger_innen dem SED-Regime den Rücken zugekehrt und das Land Richtung Westen verlassen hatten, wurde 1961 die Mauer errichtet und mit ihr die Reisefreiheit (v.a. ins nicht-sozialistische Ausland) eingeschränkt. Mit schweren Konsequenzen mussten diejenigen rechnen, die nach dem Mauerbau die DDR verlassen wollten.

Entweder durch eine Flucht: Über 5000 DDR-Bürger_innen gelang die Flucht, teilweise auf abenteuerlichen Wegen. Die genaue Anzahl der gescheiterten Fluchtversuche ist bis heute nicht bekannt. Die Geschichtsforschung spricht von 140 Todesopfern an der Berliner Mauer.

Oder durch einen Ausreiseantrag: Wer auf “legale” Weise die DDR verlassen wollte, hatte lediglich die Möglichkeit, einen formlosen Ausreiseantrag zu stellen, der in der SED-Diktatur eigentlich nicht vorgesehen war. Doch diesen zu stellen, hatte weitreichende Folgen. Antragsteller_innen wurden im Alltag benachteiligt und ausgegrenzt, sie verloren ihre Arbeit oder konnten sogar inhaftiert werden. Familienangehörige wurden teilweise schikaniert und besonders ihre Kinder wurden beispielsweise in Bildungseinrichtungen stigmatisiert. Aus diesem Grund hielten sich die meisten bedeckt.

Interview mit Dietrich Lembke – Nicht mehr dazugehören wollen und können

Eine Protestgruppe in der DDR

Der Jenaer Weiße Kreis hingegen protestierte in der Öffentlichkeit. Der Name entstand, weil die Antragsteller_innen weiße Bänder an ihre Autoantennen banden, als stilles Erkennungszeichen, für jeden sichtbar. Im Jahr 1983 traf sich die anfangs kleine Gruppe regelmäßig am Samstag um neun Uhr auf dem Platz der Kosmonauten, um schweigend und im Kreis die Hände fassend ein Zeichen zu setzen. Auf Plakate wurde verzichtet, um nicht den Eindruck einer Demonstration zu erwecken. Diese Treffen waren medienwirksam und führten dazu, dass die Staatssicherheit die Teilnehmer_innen bespitzelte. Viele von ihnen wurden verhaftet und verhört.

Die Mittel der Staatssicherheit

Alltag und Diktatur:

Ausreisen – wollen oder müssen

In der DDR gab es keine Reisefreiheit. Es gab Menschen, die ausreisen wollten, aber nicht durften, andere wurden wiederum zu einer Ausreise gezwungen wie beispielsweise die Familie Bahß (siehe dazu den Beitrag zur Wohnzimmergalerie Bahß). Ein prominentes Beispiel ist auch der Liedermacher Wolf Biermann, dessen Wiedereinreise in die DDR 1976 verweigert wurde. So konnte sich die SED-Diktatur unbequemer Bürger_innen entledigen. Doch die Ausbürgerung von Biermann führte dazu, dass der Liedermacher bekannter und einflussreicher wurde und seine Kritik an dem SED-Regime noch schärfer äußerte. Auch protestierten 13 Künstler_innen und Schriftsteller_innen mit einem offenen Brief an die DDR-Führung. Über 100 weitere prominente DDR-Persönlichkeiten unterschrieben den Aufruf. Siehe mehr zur Biermanns Ausbürgerung in MDR ZEITREISE.

“Es gab keine Regel”, sagt Dietrich Lembke, der damals mit seiner Frau unter anderem den Weißen Kreis ins Leben gerufen hatte. “Wenn man den Antrag stellte, konnte man sechs Jahre warten, am nächsten Tag ins Gefängnis gehen oder den Job verlieren.” 1983 war Lembke Assistent an der Universität Jena und lebte mit seiner Frau und zwei Kindern im Stadtteil Lobeda. (Siehe mehr zur Plattenbausiedlung Lobeda hier)
Für sein Forschungsthema im Bereich Maschinenbau brauchte er bestimmte Maschinen für Versuche, doch die Ressourcenknappheit in der sozialistischen Planwirtschaft führte dazu, dass seine Dissertation nie wissenschaftlich fundiert sein konnte. “Die erste Ausreise war die aus der Platte in die Quergasse”, so sagt es Lembke. “Dort musste man noch selbst Kohlen schleppen, aber das war egal.” In dieser Straße wohnten mehrere Antragsteller_innen.

In der Wohnung der Eheleute Lembke, in der Quergasse, traf sich die “Ausreise-Szene” heimlich. Beim ersten Treffen nahmen acht Personen teil. Lembke kannte nur einen von ihnen. Er erinnert sich: “Wir waren keine homogene Gruppe, uns verband nur die Tatsache, dass wir Antragsteller waren.” Jede/r von ihnen wurde anders vom SED-Regime und der Staatssicherheit behandelt. Lembke verlor auf der Stelle seine Arbeit und bekam so schnell auch keine neue. Er schaute sich selbst um und fand eine Stelle als Verkäufer in einem Haushaltswarenladen. Dietrich Lembke sagt: “Dem Ladenbesitzer war das egal, der war eh nicht so linientreu.” Seine Frau kündigte ihren Job freiwillig. Der ältere Sohn, ein hochbegabter Schüler, wurde vom Lehrer schikaniert. Da er mit der Situation überfordert war, nahm sich der 17-Jährige das Leben. Das war der ausschlaggebende Moment, in dem sich das Ehepaar Lembke sagte, dass jetzt etwas passieren müsse.

Ein stiller Protest mit großen Auswirkungen

Interview mit Dietrich Lembke – Über die Anfänge des Weißen Kreises

“Einige von uns hatten schon heimlich Plakate geklebt und öffentliche Veranstaltungen gestört, aber das war zu gefährlich”, erzählt Lembke. Man wollte Aufsehen erregen, aber dafür nicht gleich ins Gefängnis kommen. So wurde die Idee geboren, sich auf dem Platz der Kosmonauten zu treffen, um in Stille zu protestieren. Beim ersten Treffen auf dem Platz waren alle noch etwas verunsichert. “Es kamen Leute auf uns zu, die uns den Weg erklären wollten”, schmunzelt Lembke.

In den folgenden fünf Wochen trafen sie sich jeden Samstag um neun Uhr morgens, um mediale Aufmerksamkeit zu erhalten, doch nichts passierte. Also machten sich zwei Protestanhänger auf nach Berlin zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Sie wurden mit Journalist_innen vom Spiegel und der ARD bekannt gemacht. Nach dem die ersten Meldungen über die Ausreisebewegung in Jena in westlichen Zeitungen gedruckt worden waren, erschienen beim sechsten Treffen 200 Menschen, die aus der gesamten DDR angereist waren. Nach diesem Treffen überlegte die Gruppe, wie es weitergehen sollte.

Der Haushaltswarenladen wurde nun zum Ort des Informationsaustausches. Nach und nach kamen Mitglieder des Weißen Kreises vorbei, um von der Zulassung ihrer Ausreise zu berichten. Lembke sammelte diese Informationen. Bei ihm und seiner Familie jedoch blieb der Briefkasten leer. Dann kam ein Freund in der “Kommandozentrale” vorbei, der von einer Liste der Stasi wusste, auf der diejenigen standen, die nicht ausreisen durften. Lembkes Namen standen auf dieser Liste. “Es war der blanke Wahnsinn. Eine Stunde später war die Karte für die Vorladung zur Ausreise im Briefkasten. Die wollten uns verunsichern”, erinnert sich Lembke. Während der Vorladung stellte Lembke den ersehnten Ausreiseantrag. Zehn Tage später war die Familie in der Bundesrepublik.

Ausreise

Alltag und Diktatur:
Stasi in der Lindenstraße

Das Ministerium für Staatsicherheit (MfS, kurz Stasi) war eines der wichtigsten Instrumente, um die Herrschaft der SED zu sichern. In der Potsdamer Lindenstraße 54 befand sich eines der vielen Stasi-Gefängnisse, das im Volksmund zynisch “Lindenhotel” genannt wurde. Siehe Gedenkstätte Lindenstraße.

Insgesamt durften 70 Familien Jena und die DDR verlassen. Doch nicht alle Teilnehmer_innen und Antragsteller_innen konnten sofort in den Westen ausreisen. Heidelore Rutz und ihr Mann erfuhren vom Weißen Kreis über einen Bericht in der Süddeutschen Zeitung und fuhren nach Jena. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Tschechoslowakischen Republik entschieden sie, ein zweites Mal teilzunehmen. An diesem Samstag schritt jedoch die Stasi ein. Nach fünf Minuten des stillen Protestes tauchten Polizeibusse auf, der “Zugriff” begann. Zunächst landeten sie in der Stasi-Untersuchungshaft in Potsdam. Die beiden Söhne blieben bei ihrer Schwester und deren Mann. “Normalerweise schimpft man ja darüber, aber wir konnten von Glück reden, dass der Mann meiner Schwester in der Partei war, sagt Heidelore Rutz. Sie kam für fünf Monate ins Stasigefängnis in Potsdam, das der Volksmund zynisch “Das Lindenhotel” nannte, und anschließend ins Frauenzuchthaus Hoheneck. Erst dann durfte die Familie in die Bundesrepublik ausreisen. Damit diese Missstände nicht in Vergessenheit geraten, schrieb sie das Buch “Klopfzeichen” und schildert darin ihre Zeit in Haft.


Adresse: Weißer Kreis am Platz der Kosmonauten nun Eichplatz 07743 Jena

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